So stand's lebendig
vor Norbert Hanolds Augen, allein aus der täglichen Anschauung ihres
Kopfes hatte sich ihm allmählich noch eine neue Muthmassung herausgebildet.
Der Schnitt ihrer Gesichtszüge bedünkte ihn mehr und mehr nicht
von römischer oder latinischer, sondern von griechischer Art, so
dass sich ihm nach und nach ihre hellenische Abstammung zur Gewissheit
erhob. Ausreichende Begründung dafür lieferte die alte Besiedelung
des ganzen südliche Italiens von Griechenland her, und weitere, den
darauf Fussenden angenehm berührende Vorstellungen entsprangen daraus.
Dann hatte die junge ›domina‹ vielleicht in ihrem Elternhause
Griechisch gesprochen und war mit griechischer Bildung genährt aufgewachsen.
Bei eingehender Betrachtung fand dies auch in dem Ausdruck des Antlitzes
Bestätigung, es lag entschieden unter seiner Anspruchslosigkeit Kluges
und etwas fein Durchgeistigtes verborgen.
Diese Conjekturen oder Ausfindungen konnten indesss ein wirkliches archäologisches
Interesse an dem kleinen Bildwerk nicht begründen, und Norbert war
sich auch bewusst, etwas Anderes, und zwar in seine Wissenschaft Fallendes
sei's, was ihn zu so häufiger Beschäftigung damit zurückkehren
lasse. Es handelte sich für ihn um eine kritische Urtheilsabgabe,
ob der Künstler den Vorgang des Ausschreitens bei der Gradiva dem
Leben entsprechend wiedergegeben habe. Darüber vermochte er nicht
ins klare zu gelangen, und seine reichhaltige Sammlung von Abbildungen
antiker plastischer Werke verhalf ihm ebenfalls nicht dazu. Ihn bedünkte
nämlich die fast senkrechte Aufstellung des rechten Fusses als übertrieben;
bei allen Versuchen, die er selbst unternahm, liess die nachziehende Bewegung
seinen Fuss stets in einer weit minder steilen Haltung; mathematisch formulirt,
stand der seinige während des flüchtigen Verharrungsmomentes
nur in der Hälfte des rechten Winkels gegen den Boden, und so erschien's
ihm auch für die Mechanik des Gehens, weil am zweckdienlichsten,
als naturgemäss. Er benützte einmal die Anwesenheit eines ihm
befreundeten jungen Anatomen, diesem die Frage vorzulegen, doch auch der
war zur Abgabe eines sicheren Entscheides ausserstande, da er nie Beobachtungen
in dieser Richtung angestellt hatte. Die von dem Freunde an sich selbst
gewonnene Erfahrung bestätigte er wohl als mit seiner eigenen übereinstimmend,
wusste indesss nicht zu sagen, ob vielleicht die weibliche Gangweise sich
von der männlichen unterscheide, und die Frage gelangte nicht zu
einer Lösung.
Trotzdem war ihre Besprechung nicht ertraglos gewesen, denn sie hatte
Norbert Hanold auf etwas ihm bisher nicht Eingefallenes gebracht, zur
Aufhellung der Sache selbst Beobachtungen nach dem Leben anzustellen.
Das nöthigte ihn allerdings zu einem ihm durchaus fremdartigen Thun;
das weibliche Geschlecht war bisher für ihn nur ein Begriff aus Marmor
oder Erzguss gewesen, und er hatte seinen zeitgenössischen Vertreterinnen
desselben niemals die geringste Beachtung geschenkt. Aber sein Erkenntnisdrang
versetzte ihn in einen wissenschaftlichen Eifer, mit dem er sich der von
ihm als nothwendig erkannten eigenthümlichen Ausforschung hingab.
Diese zeigte sich in dem Menschengedränge der Grossstadt durch viele
Schwierigkeiten behindert, liess ein Ergebnis nur vom Aufsuchen minder
belebter Strassen erhoffen. Doch auch hier machten zumeist lange Kleider
die Gangart völlig unerkennbar, hauptsächlich trugen nur die
Dienstmägde kurze Röcke, konnten jedoch mit Ausnahme einer geringen
Minderzahl schon wegen ihres groben Schuhwerks für die Lösung
der Frage nicht wohl in Betracht fallen. Trotzdem fuhr er beharrlich in
seiner Auskundung fort, bei trockener wie bei nasser Witterung; er nahm
gewahr, dass die letztere noch am ehesten Erfolg verheisse, da sie die
Damen zum Aufraffen ihrer Kleidsäume veranlasse. Unvermeidlich musste
mancher von ihnen sein prüfend nach ihren Füssen gerichteter
Blick auffallen; nicht selten gab ein unmuthiger Gesichtszug der Betrachteten
kund, sie sehe sein Behaben als eine Keckheit oder Ungezogenheit an; hin
und wieder, da er ein junger Mann von sehr einnehmendem Aeussern war,
drückte sich in ein paar Augen das Gegentheil, etwas Ermuthigendes
aus, doch kam ihm das Eine sowenig zum Verständnis wie das Andere.
Nach und nach dagegen gelang seiner Ausdauer dennoch die Einsammlung einer
ziemlichen Anzahl von Beobachtungen, die seinem Blick mannigfache Verschiedenheiten
vorüberführten. Diese gingen langsam, jene hurtig, die Einen
schwerfällig, die Andern leichter beweglich. Manche liessen die Sohle
nur eben über den Boden hingleiten, nicht viele hoben sie zu zierlicherer
Haltung schräger auf. Unter Allen aber bot nicht eine einzige die
Gangweise der Gradiva zur Schau; das erfüllte ihn mit der Genugthuung,
er habe sich in seinem archäologischen Urtheil über das Relief
nicht geirrt. Andrerseits indess bereiteten seine Wahrnehmungen ihm einen
Verdruss, denn er fand die senkrechte Aufstellung des anhaltenden Fusses
schön und bedauerte, dass sie, nur von der Phantasie oder Willkür
des Bildhauers geschaffen, der Lebenswirklichkeit nicht entsprach.
Bald nachdem seine pedestrischen Prüfungen ihm diese Erkenntnis eingetragen,
hatte er eines Nachts einen schreckvoll beängstigenden Traum. Darin
befand er sich im alten Pompeji, und zwar grade an dem 24. Augusttage
des Jahres 79, der den furchtbaren Ausbruch des Vesuvs mit sich brachte.
Der Himmel hielt die zur Vernichtung ausersehene Stadt in einen schwarzen
Qualmmantel eingeschlagen, nur da und dort liessen durch eine Lücke
die aus dem Krater auflodernden Flammenmassen etwas von blutrothem Licht
Uebergossenes erkennen; alle Bewohner suchten, einzeln oder wirr zusammengeballt,
von dem unbekannten Entsetzen kopfverloren-betäubt, Rettung in der
Flucht. Auch auf Norbert stürzten die Lapilli und der Aschenregen
nieder, doch, wie's in Träumen wunderbar geschieht, verletzten sie
ihn nicht, und ebenso roch er den tödlichen Schwefeldunst in der
Luft, ohne davon am Athmen behindert zu werden. Wie er so am Rande des
Forums neben dem Jupitertempel stand, sah er plötzlich in geringer
Entfernung die Gradiva vor sich; bis dahin hatte ihn kein Gedanke an ihr
Hiersein angerührt, jetzt aber ging ihm auf einmal und als natürlich
auf, da sie ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in ihrer Vaterstadt und,
ohne dass er's geahnt habe, gleichzeitig mit ihm. Auf den ersten Blick
erkannte er sie, ihr steinernes Abbild war bis in jede Einzelheit vortrefflich
gerathen und gleicherweise ihre schreitende Bewegung; unwillkürlich
bezeichnete er sich diese als ›lente festinans‹. Und so ging
sie ruhig-behend über die Fliesenplatten des Forums dem Apollotempel
zu, mit der ihr eigenen gleichmütigen Achtlosigkeit für ihre
Umgebung.
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