Sie schien von dem auf die
Stadt niederbrechenden Geschick nichts zu bemerken, nur ihren Gedanken nachzuhängen;
darüber vergass auch er den furchtbaren Vorgang, wenigstens ein paar
Augenblicke lang, suchte in einem Gefühl, ihre lebende Wirklichkeit
werde ihm rasch wieder verschwinden, sich diese aufs genaueste einzuprägen.
Dann indess, ihn jählings überfallend, kam ihm zum Bewusstwerden,
wenn sie sich nicht eilig rette, müsse sie dem allgemeinen Untergang
mit verfallen, und heftiger Schreck entriss seinem Mund einen Warnruf. Den
hörte sie auch, denn ihr Kopf wendete sich ihm entgegen, so dass ihr
Antlitz ihm jetzt flüchtig die Vollansicht bot, doch mit einem völlig
verständnislosen Ausdruck und ohne weiter achtzugeben, setzte sie ihre
Richtung in der vorherigen Weise fort. Dabei aber entfärbte ihr Gesicht
sich blasser, wie wenn es sich zu weissem Marmor umwandle; sie schritt noch
bis zum Porticus des Tempels hinan, doch dort zwischen den Säulen setzte
sie sich auf eine Treppenstufe und legte langsam den Kopf auf diese nieder.
Nun fielen die Lapilli so massenhaft, dass sie sich zu einem völlig
undurchsichtigen Vorhang verdichteten; ihr hastig nacheilend, fand er indess
den Weg zu der Stelle, an der sie seinem Blick verschwunden war, und da
lag sie, von dem vorspringenden Dach geschützt, auf der breiten Stufe
wie zum Schlaf hingestreckt, doch nicht mehr athmend, offenbar von den Schwefeldünsten
erstickt. Vom Vesuv her überflackerte der rothe Schein ihr Antlitz,
das mit geschlossenen Lidern vollständig dem eines schönen Steinbildes
glich; nichts von einer Angst und Verzerrung gab sich in den Zügen
kund, ein wundersamer, sich ruhig in das Unabänderliche fügender
Gleichmut sah aus ihnen. Doch wurden sie rasch undeutlicher, da der Wind
jetzt den Aschenregen hierhertrieb, der sich erst wie ein grauer Florschleier
über sie breitete, dann den letzten Schimmer ihres Gesichtes auslöschte
und bald auch wie ein nordisch-winterliches Flockengestöber die ganze
Gestalt unter einer gleichmässigen Decke begrub. Draus ragten die Säulen
des Apollotempels auf, indess auch nur zur Hälfte mehr, denn eilig
häufte sich an ihnen ebenfalls der graue Aschenfall empor. Als Norbert Hanold aufwachte, lag ihm noch das verworrene Geschrei der nach Rettung suchenden Bewohner Pompejis und der dumpf dröhnende Brandungsanschlag der wilderregten See im Ohr. Dann kam er zur Besinnung; die Sonne warf ein goldenes Glanzband über sein Bett, ein Aprilmorgen war's, und von draussen scholl das vielfältige Gelärm der Grossstadt, Ausrufe von Verkäufern und Wagengeroll, bis zu seinem Stockwerk herauf. Doch stand das Traumbild noch mit jeder Einzelheit ihm aufs deutlichste vor den geöffneten Augen, und es bedurfte einiger Zeit, eh' er sich aus einem Halbzustand der Sinnbefangenheit losmachen konnte, dass er nicht wirklich in der Nacht vor bald zwei Jahrtausenden dem Untergang an der Bucht von Neapel beigewohnt habe. Erst beim Ankleiden ward er allmählich davon frei, dagegen gelang's ihm nicht, sich durch Anwendung kritischen Denkens seiner Vorstellung zu entwinden, dass die Gradiva in Pompeji gelebt und dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei. Vielmehr hatte die erstere Annahme sich ihm zur Gewissheit befestigt, und ebenso schloss sich jetzt auch die zweite daran. Mit einer wehmütigen Empfindung betrachtete er in seinem Wohnzimmer das alte Relief, das für ihn eine neue Bedeutung angenommen. Es war gewissermassen ein Gruftdenkmal, mit dem der Künstler das Bild der so früh aus dem Leben Geschiedenen für die Nachwelt forterhalten hatte. Doch wenn man sie mit aufgegangenem Verständnisse ansah, liess der Ausdruck ihres ganzen Wesens nicht zweifelhaft, dass sie sich in der verhängnisvollen Nacht wirklich mit solcher Ruhe zum Sterben hingelegt habe, wie's der Traum ihm gezeigt. Ein altes Wort sagte, die Lieblinge der Götter seien's, die sie in blühender Jugend von der Erde fortnähmen. Norbert legte sich, ohne seinen Hals noch in einen Kragen eingeengt zu haben, in leichter häuslicher Morgenkleidung, mit Hausschuhen an den Füssen, ins geöffnete Fenster und blickte hinaus. Der endlich auch zum Norden vorgeschrittene Frühling lag draussen, gab sich in der grossen Steingrube der Stadt zwar nur durch das Himmelsblau und die linde Luft kund, doch ein Ahnen berührte aus ihr die Sinne, weckte Verlangen in die sonnige Weite nach Blättergrün, Duft und Vogelgesang; ein Anhauch davon kam doch auch bis hierher, die Marktweiber auf der Strasse hatten ihre Körbe mit ein paar bunten Wiesenblumen besteckt, und an einem offenstehenden Fenster schmetterte ein Canarienvogel im Käfig sein Lied. Der arme Bursche that Norbert leid, er hörte unter dem hellen Klang trotz seinem Jubeltone die Sehnsucht nach der Freiheit, der Ferne hinaus. Doch verweilten die Gedanken des jungen Archäologen nur flüchtig dabei, denn etwas Anderes hatte sich ihnen aufgedrängt. Ihm gerieth's erst jetzt zum Bewusstsein, dass er in dem Traum nicht genau darauf geachtet habe, ob die belebte Gradiva wirklich auch so gegangen sei, wie das Bildwerk es darstellte und wie die heutigen Frauen jedenfalls nicht gingen. Das war merkwürdig, weil sein wissenschaftliches Interesse an dem Relief darauf beruhte; andrerseits freilich erklärte sich's aus der Erregung, in die ihre Lebensgefährdung ihn versetzt gehabt. Er suchte sich, indess vergeblich, ihre Gangart ins Gedächtnis zurückzurufen. Da durchfuhr ihn plötzlich einmal etwas wie mit einem Ruck; im ersten Augenblick wusste er sich nicht zu sagen, von woher. Aber dann erkannte er's; drunten auf der Strasse ging, ihm die Rückseite zuwendend, ein weibliches Wesen, nach Gestalt und Kleidung wohl eine junge Dame, leicht elastischen Schrittes dahin. Sie hielt mit der linken Hand ihren nur bis zu den Knöcheln herabreichenden Kleidsaum ein wenig aufgerafft, und seinen Augen erregte es den Eindruck, als ob bei der schreitenden Bewegung sich die Sohle ihres nachfolgenden schmalen Fusses für einen Moment auf den Zehenspitzen senkrecht vom Boden aufrichte. Es schien so, ein gewisses Erkennen liess die Entfernung und der Niederblick von oben nicht zu. |