Auf einmal befand Norbert
Hanold sich inmitten der Strasse, ohne noch recht zu wissen, wie er dorthin
gerathen sei. Er war, einem am Geländer niedergleitenden Knaben gleich,
blitzgeschwind die Treppe hinuntergeflogen, lief unten zwischen Wagen, Karren
und Menschen hindurch. Die letzteren richteten verwunderte Augen auf ihn,
und von mehreren Lippen klangen lachende, halb spöttische Ausrufe.
Dass sich diese auf ihn bezogen, ward ihm nicht verständlich, sein
Blick suchte nach der jungen Dame umher, und er glaubte auch, auf ein paar
Dutzend Schritte weit vor sich, ihre Kleidung zu unterscheiden. Doch nur
den Obertheil, von der unteren Hälfte und den Füssen konnte er
nichts gewahren, denn sie wurden durch das Getriebe sich auf dem Trottoir
drängender Leute verdeckt. Nun reckte ein altes, behäbiges Gemüseweib
die Hand nach seinem Aermel, hielt ihn dran an und brachte halb grinsend
vom Mund: »Sagen Sie mal, mein Muttersöhnchen, Sie haben heut'
nacht wohl ein bischen was zuviel Flüssigkeit in den Kopf gekriegt
und suchen hier auf der Strasse nach Ihrem Bett? Da thun Sie besser, erst
mal nach Hause zu gehn und sich im Spiegel zu besehn.« Ein Gelächter
umher bestätigte, dass er sich in einem für die Oeffentlichkeit
nicht schicklichen Anzug präsentirte, brachte ihm jetzt zur Erkenntnis,
wie er bedachtlos aus seinem Zimmer davongelaufen sei. Das machte ihn betroffen,
da er auf Anständigkeit der äusseren Erscheinung hielt, und, von
seinem Vorhaben ablassend, kehrte er rasch in die Wohnung zurück. Offenbar
von dem Traum her doch noch mit etwas verwirrten, ihm Täuschung vorgaukelnden
Sinnen, denn er hatte als letztes wahrgenommen, dass bei dem Lachen und
Rufen die junge Dame einen Augenblick den Kopf umgewendet habe, und er hatte
kein fremdes Gesicht, sondern das der Gradiva von drüben herschauend
zu sehen gemeint. Doctor Norbert Hanold befand sich
in der angenehmen Lage, durch beträchtlichen Vermögensbesitz
unbeschränkter Herr seines Thuns und Lassens zu sein und bei dem
Auftauchen einer Neigung in ihm nicht von einer Begutachtung derselben
durch irgendwelche höhere Instanz als seine eigene Entscheidung abzuhängen.
Darin unterschied er sich äusserst günstig von dem Canarienvogel,
der seinen angeborenen Trieb, aus dem Käfig in die sonnige Weite
davonzukommen, nur erfolglos hinausschmettern konnte, sonst jedoch besass
der junge Archäologe mit jenem in manchem einige Aehnlichkeit. Er
war nicht in der Naturfreiheit zur Welt gekommen und aufgewachsen, sondern
eigentlich schon bei der Geburt zwischen Gitterstäben eingehegt worden,
mit denen ihn Familien-Tradition durch Erziehung und Vorbestimmung umgeben.
Von seiner frühen Kindheit auf hatte im Elternhause kein Zweifel
darüber bestanden, dass er als einziger Sohn eines Universitätsprofessors
und Alterthumsforschers berufen sei, durch die nämliche Thätigkeit
den Glanz des väterlichen Namens weiterzuerhalten, womöglich
noch zu erhöhen, und so war diese Geschäftsfortsetzung ihm von
jeher als die selbstverständliche Aufgabe seiner Lebenszukunft erschienen.
Daran hatte er auch, nach dem frühen Abscheiden seiner Eltern völlig
allein zurückgeblieben, getreulich festgehalten, im Anschlusse an
sein vorzüglich bestandenes philologisches Examen die vorschriftsmässige
Studienreise nach Italien gemacht und auf dieser eine Fülle alter
plastischer Kunstwerke, deren Nachbildungen ihm bisher nur zugänglich
gewesen, im Original gesehen. Lehrreicheres als in den Sammlungen von
Florenz, Rom, Neapel konnte nirgendwo für ihn geboten werden, er
durfte sich das Zeugnis zutheilen, seine dortige Aufenthaltszeit aufs
beste zur Bereicherung seiner Kenntnisse ausgenutzt zu haben, und war
vollbefriedigt heimgekehrt, sich mit den neuen Errungenschaften ganz in
seine Wissenschaft zu vertiefen. Dass ausser ihren Gegenständen aus
einer fernen Vergangenheit auch noch eine Gegenwart um ihn herum vorhanden
sei, kam ihm nur äusserst schattenhaft zur Empfindung; für sein
Gefühl waren Marmor und Bronze nicht todte Mineralien, vielmehr das
einzig wirklich Lebendige, den Zweck und Werth des Menschenlebens zum
Ausdruck Bringende. Und so sass er zwischen seinen Wänden, Büchern
und Bildern, keines andern Verkehrs bedürftig, sondern jedem als
einer leeren Zeitvergeudung möglichst ausweichend und sich nur sehr
widerwillig ab und zu in die unabwendbare Plage einer Gesellschaft fügend,
deren Besuch altüberlieferte Verbindungen seines Elternhauses ihm
aufnöthigten. Doch war's bekannt, dass er an solchen Zusammenkünften
ohne Augen und Ohren für seine Umgebung theilnahm, unter einer Vorgabe
sich stets nach der Beendigung des Mittag- oder Abendessens, sobald es
irgend thunlich wurde, empfahl, und auf der Strasse niemand von denen,
mit welchen er am Tisch gesessen, begrüsste. Das diente dazu, ihn
besonders bei jungen Damen in ein wenig günstiges Licht zu stellen;
denn selbst eine solche, mit der er ausnahmsweise ein paar Worte gesprochen
hatte, blickte er bei einer Begegnung grusslos als ein nie gesehenes,
wildfremdes Gesicht an. |